Pragmatik: Sprache in bestimmten Situationen

Pragmatik: Sprache in bestimmten Situationen
Pragmatik: Sprache in bestimmten Situationen
 
Der Begriff Pragmatik, wie er heute verwendet wird, geht auf den Philosophen Charles W. Morris zurück, der eine allgemeine Wissenschaft von den Zeichen oder Semiotik entwickeln wollte. Innerhalb der Semiotik unterschied Morris drei Bereiche: Syntax, das heißt die Wissenschaft von den »formalen Beziehungen der Zeichen zueinander«, Semantik, die Wissenschaft der »Beziehungen der Zeichen zu den Gegenständen«, und Pragmatik, die Erforschung der Beziehung von Zeichen zu dem Kontext, in dem sie verwendet werden. In der Folge vertrat Morris einen sehr weitgefassten Begriff der Pragmatik, nach dem er ihr auch alle psychologischen, biologischen und soziologischen Phänomene zurechnete, die bei der Verwendung von Zeichen eine Rolle spielen — Bereiche, die heute im Rahmen eigener Forschungszweige wie der Psycholinguistik und der Soziolinguistik untersucht werden.
 
Die Grenze zwischen Semantik und Pragmatik wird heute oft in der Weise gezogen, dass man die konstant mit den Ausdrücken verknüpften inhaltlichen Elemente »Bedeutungen« nennt und sie zu Gegenständen der Semantik erklärt. Dagegen soll die Pragmatik den Gebrauch von Ausdrücken erfassen, den Sprechende in bestimmten Situationen machen. Im Folgenden werden vier zentrale Themen der Pragmatik vorgestellt: Sprechakte, Deixis, Implikaturen und Präsuppositionen. In einem zweiten Teil soll die zentrale Rolle dieser Konzepte in der sprachlichen Kommunikation an einem konkreten Beispiel dargestellt werden.
 
 Die Theorie der Sprechakte
 
Die Theorie der Sprechakte geht auf den englischen Philosophen John Austin zurück. Er bemerkte, dass Sprecher mit bestimmten Äußerungen Aussagen machen, mit denen sie Sachverhalte beschreiben, und die entsprechend wahr oder falsch sind, und dass andere Äußerungen dagegen ganz anderer Natur sind. Das Besondere dieser Äußerungen besteht darin, dass Sprecher mit ihnen Handlungen vornehmen oder, wie Austin sagt, dass Sprecher mit ihnen etwas tun. Beispiele für bestimmte Sprechakte sind die folgenden Sätze: 1) Ich gebe dir mein Wort. 2) Das verspreche ich dir. 3) Ich warne Sie. 4) Hiermit bestätigen wir Ihnen den Erhalt. .. 5) Guten Tag!
 
Austin unterschied also zwischen konstatierenden Äußerungen, mit denen über etwas geredet wird, und performativen Äußerungen, mit denen man Handlungen vollzieht. Das kann explizit durch Verwendung eines Verbs wie versprechen, warnen oder bestätigen geschehen, wie im zweiten, dritten und vierten Beispiel, oder implizit wie im fünften Beispiel. Weitere Analysen führten Austin zu einem generalisierten Begriff des Performativen, und er unterschied dementsprechend zwischen drei Aspekten von Sprechakten:
 
1) Der lokutionäre Akt, der Akt des Sagens, bei dem sich wiederum drei Elemente unterscheiden lassen: der phonetische Akt, der darin besteht, dass entsprechend der Regeln der Phonologie Laute artikuliert werden; der phatische Akt, der darin besteht, dass nach den grammatischen Konstruktionsregeln einer Sprache Wörter geäußert werden; der rhetische Akt, der darin besteht, dass über etwas gesprochen und darüber etwas gesagt wird.
 
2) Der illokutionäre Akt: Er stellt die Handlung dar, die mit dem lokutionären Akt vollzogen wird, beipielsweise das Aufstellen einer Behauptung, Befehlen, Versprechen oder Bezeugen.
 
3) Der perlokutionäre Akt: Dieser kommt dadurch zustande, dass mit einer Äußerung bestimmte Wirkungen auf die Gefühle, Gedanken oder Handlungen des Adressaten ausgeübt werden. So wird der Adressat etwa überzeugt, überredet, gekränkt oder zu etwas motiviert. Illokutionäre Akte können auf verschiedenen lokutionären Akten beruhen. Beispielsweise kann mit der Äußerung Ich verspreche dir, heute Abend zu kommen ein Versprechen explizit gegeben werden, implizit kann dies aber auch mit der Feststellung Ich komme heute Abend geschehen.
 
Im Gegensatz zu konstativen Äußerungen können performative Äußerungen nicht »wahr« oder »falsch« sein; gleichwohl lassen sich nach Austin Bedingungen formulieren, unter denen sie gelingen oder scheitern können. So wird in islamischen Kulturen unter bestimmten Voraussetzungen der Ehebund aufgelöst, wenn der Mann die Scheidung dreimal ausspricht. Im Rahmen der deutschen Rechtsprechung aber hat ein solches Vorgehen keine Scheidung zur Folge. Die performative Äußerung verletzt mit anderen Worten in unserem Rechtswesen wesentliche Bedingungen des Gelingens und bleibt ohne Folgen.
 
Austins Sprechakttheorie wurde unter anderem von John Searle weiter ausgearbeitet. Seit Austin und Searle wurden mehrere Versuche unternommen, die verschiedenen Typen von Sprechakten zu systematisieren. Eine mögliche Einteilung stammt von Stephen Levinson: Repräsentative Sprechakte verpflichten den Sprecher auf die Wahrheit (zum Beispiel Behaupten, Schließen oder Vermuten). Mit direktiven Sprechakten versucht man jemanden zu etwas zu bewegen (unter anderem Bitten, Auffordern und Befehlen). Kommissive Sprechakte verpflichten den Sprechenden zu etwas (zum Beispiel Versprechen, Drohen, Schwören). Expressive Akte drücken eine Haltung aus (unter anderem Danken, Entschuldigen, Begrüßen und Gratulieren). Deklarationen schließlich schaffen institutionelle Tatsachen (etwa Krieg erklären, Taufen oder Ernennen).
 
 Die Deixis
 
Die Deixis betrifft Ausdrücke wie ich, du, hier, dort, dieser oder so. Der Begriff der Deixis, der sich von einem griechischen Wort für »zeigen« herleitet, bezeichnet in der Linguistik die Funktion von Pronomina, Personalendungen, Tempus, Adverbien des Ortes und der Zeit und einer Vielzahl anderer grammatischer und lexikalischer Elemente, die Äußerungen unmittelbar zur Situation, ihrem Kontext, in Beziehung setzen. Mit deiktischen Ausdrücken bewirkt der Sprecher, dass die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte eines für die Gesprächsteilnehmer gemeinsamen Bezugsraums gelenkt wird: auf die an der Gesprächssituation beteiligten Personen (Sprecher und Hörer), auf den Sprechort, die Sprechzeit, auf Objekte im Verweisraum. Ausgangspunkt sind dabei Ort und Zeit der Sprechenden. Andere Formen der Deixis beziehen sich auf Eigenschaften (so), die Planungsabfolge (nun), den Aufbau einer Rede (im nächsten Kapitel) und auf die soziale Beziehung zwischen Sprecher und Hörer (zum Beispiel Höflichkeitsformen).
 
Der Bezugsraum, auf den deiktische Ausdrücke verweisen, ist häufig der Wahrnehmungsraum, der den Gesprächsteilnehmern unmittelbar sinnlich zugänglich ist (wie in den Sätzen »Dieser Finger tut weh!«, »Dies ist das Kleid, von dem ich dir erzählte.« oder »Dort draußen steht der Baum.« (die deiktischen Ausdrücke sind hier kursiv gesetzt). Symbolische Verwendungen deiktischer Ausdrücke zielen auf einen abstrakteren Verweisraum (zum Beispiel »Diese Stadt ist wirklich schön.«). Schließlich können deiktische Ausdrücke auch in nicht deiktischer Form verwendet werden, etwa in dem Satz »Oh, ich habe so dies und das gemacht.«
 
Während die Zeitdeixis auf die Rolle der Teilnehmer am Sprechereignis und die Raumdeixis auf den Standort der Teilnehmer zum Zeitpunkt der Äußerung bezogen ist, gibt es nicht deiktische Raum- und Zeitangaben, die vom Standpunkt von Sprecher und Hörer und dem Zeitpunkt der Äußerung unabhängig sind. Beispiele für deiktische (hier kursiv gesetzt) und nicht deiktische Ausdrücke zu Raum und Zeit geben die folgenden Sätze:
 
Der Bahnhof ist 200 m entfernt (bezogen auf den Standort der Teilnehmer zur Sprechzeit).
 
Der Bahnhof befindet sich 200 m vom Dom.
 
Er verlässt jetzt gerade das Haus.
 
Ich arbeite jetzt an einer Dissertation (hier erstreckt sich die Zeitspanne nicht nur auf den Moment, sondern auf einen längeren Zeitraum).
 
Das Programm wurde am Mittwoch, den 1. April aufgezeichnet.
 
 Die Implikaturen
 
Der Begriff der Implikatur bezieht sich darauf, dass Ausdrücke natürlicher Sprachen (zumindest in vielen Fällen) dazu tendieren, einen einfachen, stabilen und einheitlichen Sinn zu haben, dass dieser stabile semantische Kern aber von einem instabilen, kontextabhängigen pragmatischen Sinn überlagert wird, nämlich von einem Bündel von Implikaturen. Das von Paul Grice formulierte Konzept der Implikaturen geht von der Existenz einer Gruppe allgemeiner Maximen aus, die der Gesprächsführung, dem Sprachgebrauch zugrunde liegen. Im Sinne solcher allgemeiner Prinzipien identifizierte Grice vier Konversationsmaximen, die er zusammengefasst als »Kooperationsprinzip« bezeichnete. Es handelt sich, in Anlehnung an Stephen Levinson, um die folgenden Prinzipien:
 
Kooperationsprinzip: Sprich, wie es die Umstände erfordern! Im Einzelnen beachte folgende Maximen:
 
Maxime der Qualität: Sage die Wahrheit! Sage nichts, was du für falsch hältst, und nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen!
 
Maxime der Quantität: Mache deinen Beitrag so informativ wie erforderlich, aber nicht informativer als nötig!
 
Maxime der Relevanz: Sage nur, was von Belang ist!
 
Maxime der Art und Weise: Sprich verständlich! Sprich insbesondere klar, eindeutig, kurz und geordnet!
 
Grice erkennt wohl, dass Sprechende diese Prinzipien nicht immer wahren. Er will seine Maximen aber in der Weise verstanden wissen, dass sie für Äußerungen, die ihnen vordergründig nicht entsprechen, eine Art Umdeutung erzwingen, mit der die Maximen doch befolgt werden. Reagiert beispielsweise jemand auf die Frage Wo ist Michael? mit Vor Susannes Haus steht ein gelber VW, ist das wörtlich genommen keine Antwort. Die Äußerung könnte als nicht kooperative Reaktion und als ein bewusster Themenwechsel gedeutet werden. Versucht man sie als kooperative Antwort zu deuten, wird man nach der Verbindung zwischen dem Standort von Michael und dem gelben VW fragen. Es ergibt sich vielleicht der Hinweis, dass Michael, wenn er einen gelben VW hat, in Susannes Haus sein könnte. Unter der Voraussetzung der Kooperativität des Antwortenden, das heißt davon ausgehend, dass er eigentlich eine Antwort gegeben hat, interpretiert der Fragende den ausgesprochenen Satz neu und schließt aus der Irrelevanz seiner wörtlichen Bedeutung auf einen Zusammenhang zwischen dem gelben VW und dem Aufenthaltsort von Michael. Derartige Schlüsse nennt Grice Implikaturen (im Unterschied zu den semantischen Implikationen).
 
Einer der Vorzüge der Theorie der Implikaturen im Rahmen der Linguistik ist Levinson zufolge, dass sie die Semantik beträchtlich zu vereinfachen verspricht. Die Überfrachtung lexikalischer Einheiten mit Sinngehalten kann zum Beispiel vermieden werden, wenn man feststellt, dass Implikaturen oft verschiedene Interpretationen derselben Einheit in verschiedenen Kontexten erklären.
 
Schließlich verdienen die skalaren Implikaturen Aufmerksamkeit, über die pragmatische Beziehungen ihren Niederschlag in der lexikalischen Struktur des Wortschatzes finden. Unter einer Skala wird eine nach Informativität (nach Informationskraft) geordnete Folge vergleichbarer Ausdrücke verstanden, zum Beispiel . Beispielsweise impliziert der Satz Alle Bäume sind krank wörtlich genommen den Satz Einige Bäume sind krank. Wer sagt, Einige Bäume sind krank, schließt wörtlich nicht aus, dass tatsächlich alle Bäume krank sind. Wenn aber jemand im gewöhnlichen Gespräch behauptet, einige Bäume seien krank, meint er natürlich damit nicht alle Bäume. Mit seiner wörtlichen Behauptung verknüpft er die skalare Implikatur: Nicht alle Bäume sind krank. Wenn ein Sprecher allgemein die schwächere Behauptung macht (hier: einige. ..), wird diese um die skalare Implikatur erweitert verstanden, nach der er nicht in der Lage ist, die stärkere Behauptung (hier: alle. ..) zu machen. Andere derartige Skalen sind , , , , , , , .
 
 Die Präsuppositionen
 
Eine weitere Art pragmatischer Schlüsse sind die Präsuppositionen. Als Präsuppositionen werden die konstitutiven Voraussetzungen einer sinnvollen Äußerung betrachtet. Der englische Philosoph Peter Strawson, der den Begriff in die sprachanalytische Philosophie und die Linguistik eingeführt hat, bezeichnete zunächst bestimmte semantische Vorbedingungen als Präsuppositionen, welche beim Gebrauch von Namen und Ausdrücken wie der König von Frankreich erfüllt sein müssen, damit eine Aussage wahr oder falsch sein kann. Der Satz Der König von Frankreich ist weise hat, damit er als wahr oder falsch beurteilt werden kann, zur Vorbedingung: Es gibt gegenwärtig einen König von Frankreich. Diese Vorbedingung ist eine Präsupposition.
 
Vor Strawson hatten bereits Bertrand Russell und Gottlob Frege auf dieses logische Phänomen hingewiesen. Seitdem sind in der Linguistik zahlreiche Arbeiten zum Begriff der Präsupposition erschienen und unterschiedliche Ansätze entwickelt worden, um ihn zu klären. Strawsons Begriff der Präsupposition kann wie folgt dargestellt werden: Eine Aussage A präsupponiert eine Aussage B, wenn Folgendes der Fall ist: Wenn A wahr ist, ist B wahr, und wenn A falsch ist, ist B wahr. Eine Präsupposition einer Aussage A ist damit eine Aussage, welche wahr sein muss, damit sowohl der Satz A als auch seine Negation Nicht-A überhaupt wahr oder falsch, das heißt sinnvoll ist. Wenn eine solche Präsupposition nicht erfüllt ist, also B falsch ist, so ist nach Strawson die Aussage A nicht etwa falsch, sondern bedeutungslos.
 
Nicht nur Aussagen beziehungsweise Behauptungen, sondern auch Aufforderungen, Fragen und alle anderen Sprechakte haben Präsuppositionen. Bei den genannten Beispielen handelt es sich um semantische Präsuppositionen, die damit von den pragmatischen, das heißt auf besondere Weise von der Sprechsituation abhängigen Präsuppositionen zu unterscheiden sind.
 
 Ein Beispiel: Ilses Bitte um Milch
 
In der Tabelle sind verschiedene Formen Ilses aufgeführt, ihrem Wunsch nach Milch Ausdruck zu geben. Syntaktisch betrachtet handelt es sich bei Ilses Äußerungen um Behauptungssätze (7. Du gibst mir die Milch.), Imperativsätze (3. Gib mir die Milch!) oder Ja-Nein-Fragesätze (4. Willst du mir jetzt die Milch geben?, 11. Hast du Milch?) und zwei Satzfragmente (9. Milch und 10. Die Milch bitte!). Man sollte meinen, Behauptungssätze drückten Behauptungen aus, Imperativsätze Aufforderungen, Ja-Nein-Fragesätze Ja-Nein-Fragen und einzelne Wörter in der Regel nichts davon. Tatsächlich äußert Ilse in allen Fällen jedoch Aufforderungen, die teilweise den Charakter von Bitten, Befehlen oder Drohungen annehmen. Ebenso gut könnte sie in einer anderen Situation mit demselben Behauptungssatz Du gibst mir die Milch (7) etwas behaupten oder jemanden fragen. Behaupten, Auffordern und Fragen sind, wie oben gezeigt wurde, Beispiele für drei verschiedene Sprechakte. Weiterhin könnte man annehmen, dass Sätze wie Ich sage dir, du gibst mir die Milch (6), Hiermit bitte ich dich, mir die Milch zu geben (16) und Ich frage dich, kannst du mir die Milch geben (17) ausdrücken, was sie von sich sagen: eine Behauptung (Ich sage dir), eine Bitte (Hiermit bitte ich dich) und eine Frage (Ich frage dich). Aber auch das ist nicht der Fall; auch diese Sätze sind in dieser Situation als Aufforderungen zu verstehen. Hier wird deutlich, dass der Vollzug eines Sprechaktes sowohl von der syntaktischen Kategorie als auch von der Bedeutung seines sprachlichen Ausdrucks unabhängig sein kann. Jene Unabhängigkeit wird von zwei Grenzfällen demonstriert. Schon Austin weist darauf hin, man könne nicht jemanden explizit beleidigen, etwa mit den Worten Hiermit beleidige ich Sie. Umgekehrt spricht ein Anwalt mit den Worten Ich drohe Ihnen noch nicht unter geeigneten Umständen eine Drohung aus.
 
In den Äußerungen Ilses sind mehrere deiktische Ausdrücke enthalten. Personalpronomina wie ich, du oder mir beziehen sich auf den jeweiligen Sprecher beziehungsweise Angesprochenen, auf Ilse (ich, mir) und Peter (du, dich, dir); Adverbien wie augenblicklich und jetzt, ebenso wie die Flexive -e (zum Beispiel bekomme) und -st (willst) mit ihrem Tempus auf die Zeit des Sprechaktes.
 
Deiktische Ausdrücke ermöglichen Sprechenden, mit demselben Ausdruck unter verschiedenen Umständen Verschiedenes zu meinen. Mit der Äußerung Du gibst mir die Milch (7) fordert Ilse Peter auf, ihr Milch für den Kaffee zu reichen. Wenn eine andere Person ein Jahr später und an einem anderen Ort dieselbe Äußerung macht, kann sie damit vielleicht ihren Sohn um ein Glas Milch bitten. Das Hiermit in dem Satz Hiermit bitte ich dich, mir die Milch zu geben (16) bezieht sich sogar auf den Sprechakt selbst, dessen Bestandteil es ist.
 
Eine weitere Form der Abhängigkeit des Sprechens von der Redesituation sind die Präsuppositionen. Wenn Peter und Ilse klar wäre, dass keine Milch vorhanden ist, wären Äußerungen wie Du gibst mir die Milch (7) unpassend. Diese Aufforderung geht von der Annahme aus, dass tatsächlich Milch vorhanden ist. Sie wäre im pragmatischen Sinne ebenfalls deplatziert, wenn Ilse sich schon Milch genommen hätte oder ihren Kaffee stets schwarz tränke. Ilses Bitten in dem Beispiel sind nur dann sinnvoll, wenn Milch vorhanden ist, Ilses Kaffee schwarz ist und Ilse tatsächlich Milch wünscht.
 
Die verschiedenen Aufforderungen des Beispiels sind nicht gleichwertig. Wir haben ein Gespür dafür, dass Formulierungen wie Kannst du mir die Milch geben? (14), Gibst du mir die Milch? (13) und Hast du Milch? (11) am ehesten zu der beschriebenen Situation passen. Aussagesätze wie Du gibst mir die Milch (7) klingen unerbittlicher als Imperativsätze wie Gib mir bitte die Milch! (8). Zudem scheint der sprachliche Aufwand eine Rolle zu spielen. Die Sätze (7) bis (2) entsprechen dem Nachdruck, den Ilse ihrer Bitte verleiht und bringen eine zunehmende Ungeduld zum Ausdruck. Die auf ein Wort beziehungsweise ein Satzfragment reduzierten Aufforderungen Milch (9) und Die Milch bitte! (10) werden nur dort keinen Anstoß erregen, wo eine familiäre Umgebung vor Missverständnissen schützt. Eine explizit performative Äußerung wie Hiermit fordere ich dich auf, mir die Milch zu geben (5) verleiht der Aufforderung einen besonderen Nachdruck. Eine förmliche Wendung wie Dürfte ich dich um die Freundlichkeit bitten, mir die Milch zu geben? (19) wirkt in diesem Zusammenhang unernst. Wir sind uns bei der Wahl einer Formulierung in einer Situation in der Regel so sicher, dass wir Fehlgriffe ironisch werten. Um aber die Angemessenheit einer Drohung wie Wenn ich nicht augenblicklich die Milch bekomme, passiert etwas (2) verstehen zu können, bedürfte es weiterer Hinweise auf den Umstand der Äußerung, beispielsweise, ob der Konversation ein Streit zwischen Ilse und Peter vorhergegangen ist. Das ist dem Satz weder auf semantischer noch auf pragmatischer Ebene zu entnehmen.
 
Was jemand mit einer Äußerung in einer bestimmten Situation meint, kann sich merkwürdig weit von dem entfernen, was der Satz wörtlich ausdrückt. Mit Schwarz, schwarz, schwarz sind alle meine Kleider (18) weist Ilse unter diesen Umständen nicht auf ihre Kleidung hin, sondern will ihrem Wunsch Ausdruck geben. In diesem Zusammenhang sei an das Konzept der Implikaturen und das von Grice formulierte »Kooperationsprinzip« erinnert. Wenn Ilse wirklich meinen würde, was sie mit (18) wörtlich ausdrückt, wäre das in der konkreten Gesprächssituation belanglos. Sie verstieße damit gegen die Maxime der Relevanz (Sage nur, was von Belang ist!) und gegen das Prinzip der Kooperation (Sprich, wie es die Umstände erfordern!). Tatsächlich wird Peter aber zunächst Ilses Kooperativität nicht in Zweifel ziehen und stattdessen unwillkürlich den Gehalt der Äußerung (18) so bereichern, dass der Maxime der Relevanz und dem Kooperationsprinzip Genüge getan wird. Aus dem wörtlichen Gehalt der eher ironischen Äußerung wird Peter den Appell entnehmen Biete mir Milch an. Dies ist ein Beispiel für eine Implikatur. Tatsächlich benennen die Konversationsmaximen nicht mehr als die Beweggründe für eine Bereicherung des Gehalts um Implikaturen, lassen aber die Richtung der Bereicherung offen; diese hängt von der konkreten Situation ab, in der die Äußerung gemacht wird. Nach Grice beruhen die Konversationsmaximen nicht auf bloßer Konvention, sondern stellen rationale Mittel zur kooperativen Gesprächsführung dar, die auch auf nicht sprachliches Verhalten Anwendung finden. Tatsächlich wird Peter aus der Situation heraus verstehen, was Ilse meint, wenn sie wortlos auf den Kaffee starrt (20). Das Ausbleiben einer sprachlichen Äußerung ist an sich unkooperativ, aber Ilses demonstrative Verweigerung macht daraus einen Appell an Peter, für ihr Verhalten einen Grund zu finden.
 
Diese Ausführungen zu wichtigen Fragestellungen der Pragmatik sollen mit einigen allgemeinen Bemerkungen zur Funktion sprachlicher Äußerung und Verständigung abgeschlossen werden. Anders als Automaten sind Menschen in dem Sinne frei, dass sie nicht mechanisch steuerbar und beeinflussbar sind. Dieser biologisch und psychologisch höchst bedeutsame Umstand ist Grundlage für die Ausbildung regelgeleiteter Kommunikationsformen. Kommunikation und Verzicht auf Gewalt dürften für die Evolution des Menschen und die Entwicklung von Kultur entscheidend gewesen sein. Entsprechend sind die Sätze in unserem Beispiel nach abnehmender Gewalt geordnet. Die Androhung von Konsequenzen wie Wenn ich nicht augenblicklich die Milch bekomme, passiert etwas (2) kommt der mechanischen Beeinflussung wohl am nächsten.
 
Die Varianten (1) und (20), in denen Ilse ihrem Wunsch nach Milch in nicht sprachlicher Form Ausdruck gibt, sind für sich genommen nicht mehr kommunikativ zu nennen, insofern zum kommunikativen Gehalt eines Verhaltens nicht alles gehören sollte, was ihm entnommen werden kann. Wenn Ilse sagt Wenn ich nicht augenblicklich die Milch bekomme, passiert etwas und Peter an ihrer Diktion erkennt, dass sie aus Schwaben stammt oder magenleidend ist, so hat das nichts mit dem semantischen, noch mit dem pragmatischen Gehalt ihrer Worte zu tun. Dazu wird im strengen Sinne nur das gerechnet, was Ilse mit ihrer Äußerung Peter wissen lassen möchte. Die Bestimmung dieser nicht scharfen Grenze der Pragmatik geht auf Grice zurück.
 
Indessen ist Sprache nicht nur in Form einzelner Worte oder Äußerungen im Sinne der bisherigen Ausführungen, sondern in komplexen Gesprächsstrukturen, Textgattungen, sprachlichen Verhaltensweisen und Konventionen mit dem menschlichen Lebensvollzug verbunden. Beispielsweise sind im Monolog Sprecher und Hörer identisch. In Unterhaltungen tauschen sich Sprecher und Hörer nach komplizierten Regeln aus, die den Gesprächsteilnehmern bekannt sind und von ihnen befolgt werden. Der Briefwechsel unterliegt ähnlich komplizierten Regeln. Ein Redner spricht gegebenenfalls zu Tausenden von Zuhörern, um mitzuteilen, zu überzeugen oder zu predigen. In einer Liturgie dagegen können Hunderte von Menschen rezitieren, ohne jemandem etwas mitzuteilen. Briefe sind an jemanden gerichtet; sie teilen etwas mit. Zeitungen wenden sich an die anonyme Öffentlichkeit und können informieren. Grüße pflegen soziale Beziehungen. Das Ausfüllen eines Formulars bereitet juristische Akte vor. In der Kalligraphie verbinden sich Schrift und bildende Kunst.
 
Prof. Dr. Volker Beeh
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Semantik: Bedeutungen von Wörtern und Sätzen
 
 
Austin, John Langshaw: Zur Theorie der Sprechakte. Aus dem Englischen. Neudruck Stuttgart 1994.
 Freundlich, Rudolf: Einführung in die Semantik. Darmstadt 21988.
 Searle, John R.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Aus dem Englischen. Neudruck Frankfurt am Main 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужна курсовая?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Sprache — Sprechvermögen; Ausdrucksform * * * Spra|che [ ʃpra:xə], die; , n: 1. <ohne Plural> das Sprechen; die Fähigkeit zu sprechen: durch den Schock verlor er die Sprache; die Sprache wiederfinden. 2. System von Zeichen und Lauten, das von… …   Universal-Lexikon

  • Sprache: Varietäten, Familien, Stämme —   Die Sprache ist eine Eigentümlichkeit des Menschen. Ihre Bedeutung ist schon an dem zeitlichen Aufwand zu ermessen, die der Mensch ihr widmet. Seine Verständigung mit anderen, sein Handeln, Denken und Vorstellen ist von ihr durchdrungen und… …   Universal-Lexikon

  • Semantik: Bedeutungen von Wörtern und Sätzen —   Der Begriff der Semantik ist relativ jung. Er wurde erst am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem griechischen Wort sêma für »Zeichen«, »Merkmal« gebildet und dient als allgemeine Bezeichnung für Untersuchungen der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke …   Universal-Lexikon

  • Sprechakt — Sprẹch|akt 〈m. 1〉 das Sprechen, Vorgang des Sprechens ● während des Sprechakts * * * Sprẹch|akt, der (Sprachwiss.): Akt sprachlicher Kommunikation. * * * Sprech|akt,   Bezeichnung der »grundlegenden oder kleinsten Einheiten der sprachlichen… …   Universal-Lexikon

  • Semiotik — Se|mio|tik 〈f. 20; unz.〉 Lehre von den Zeichensystemen (z. B. Verkehrszeichen, Bilderschrift, Formeln, Sprache) in ihren Beziehungen zu den dargestellten Gegenständen; → Lexikon der Sprachlehre * * * Se|mi|o|tik, die; [zu griech. sēmeiōtikós =… …   Universal-Lexikon

  • Deixis — Deixis, Pl. Deixeis (von griech. δείκνυμι, „zeigen“) ist ein Fachbegriff aus der Sprachwissenschaft. Er bezeichnet die Bezugnahme auf Personen, Orte und Zeiten im Kontext,[1] die mit Hilfe von deiktischen oder indexikalischen Ausdrücken wie ich,… …   Deutsch Wikipedia

  • Deiktika — In diesem Artikel oder Abschnitt fehlen wichtige Informationen. Du kannst Wikipedia helfen, indem du sie recherchierst und einfügst. Deixis, Pl. Deixeis (von griech. δείκνυμι, „zeigen“, lat. demonstr …   Deutsch Wikipedia

  • Deiktisch — In diesem Artikel oder Abschnitt fehlen wichtige Informationen. Du kannst Wikipedia helfen, indem du sie recherchierst und einfügst. Deixis, Pl. Deixeis (von griech. δείκνυμι, „zeigen“, lat. demonstr …   Deutsch Wikipedia

  • Deiktischer Ausdruck — In diesem Artikel oder Abschnitt fehlen wichtige Informationen. Du kannst Wikipedia helfen, indem du sie recherchierst und einfügst. Deixis, Pl. Deixeis (von griech. δείκνυμι, „zeigen“, lat. demonstr …   Deutsch Wikipedia

  • Diskursdeixis — In diesem Artikel oder Abschnitt fehlen wichtige Informationen. Du kannst Wikipedia helfen, indem du sie recherchierst und einfügst. Deixis, Pl. Deixeis (von griech. δείκνυμι, „zeigen“, lat. demonstr …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”